Publikationen (ab 1989)

Hellmuth Metz-Göckel






Publikationen

Metz-Göckel, Hellmuth (Hrsg) (2011).
Gestalttheoretische Inspirationen. Anwendungen der Gestalttheorie. Handbuch zur Gestalttheorie. Band 2.
Wien: Verlag Krammer

Vorwort
Die ersten drei Artikel sind historisch orientiert, wobei Kästl & Stemberger auch auf Anwen-dungen gestalttheoretischer Erkenntnisse eingehen, hier: auf ihre Beiträge zur Psychotherapie.

Die Ausführungen von Fiorenza Toccafondi über "Philosophie, Phänomenologie und Psychologie" setzen sich mit der Auffassung auseinander, zwischen der Husserlschen Phänomenologie und der Gestalttheorie bestünden enge Beziehungen. Die Autorin zeigt, dass dem nicht so ist. Die Gestalttheoretiker hatten mit Stumpf einen Lehrer (übrigens der Lehrstuhlvorgänger von Wolfgang Köhler), der eine enge Verbindung zwischen Empirie und theoretischer Reflexion verfocht. Dies entsprach überhaupt nicht der reinen Phänomenologie von Husserl. Es gab auch in den Reihen der Gestalttheoretiker wenig Auseinandersetzung mit dieser Richtung (mit einigen wenigen Ausnahmen bei Duncker). Ein weiterer Punkt ist die Beziehung zur Physiologie. Die Gestalttheoretiker haben früh die Auffassung von Strukturverwandtschaften zwischen psychischen und physiologischen Prozessen vertreten. Es ergeben sich also wenige oder keine Parallelen zwischen den beiden Richtungen.

Rainer Kästl und Gerhard Stemberger treten in ihrem Beitrag zu "Anwendungen der Gestalttheorie in der Psychotherapie" zunächst einmal der Auffassung entgegen, die Gestalttheoretiker hätten wenig Interesse an klinisch-psychotherapeutischen Themen gehabt. Sie können aufzeigen, dass dies so nicht stimmt. Selbst die Theoretiker der ersten Generation haben sich mit solchen Fragen befasst, die aber meist nicht publiziert oder auch nicht weiterverfolgt oder auch von der wissenschaftlichen Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen wurden. Dagegen haben sich mehrere Schüler der zweiten Generation mit solchen Fragen befasst. Dies war zum Teil auch nicht bekannt und wurde erst im Rahmen der Entstehung dieses Beitrags recherchiert und eruiert. Hier zeigen sich besondere Einflüsse von Kurt Goldstein und Kurt Lewin. Der zweite Teil des Beitrags befasst sich mit gestalttheoretisch orientierter Psychotherapie. Sie ist auf dem Hintergrund der heute üblichen Differenzierungen als tiefenpsychologisch fundierte, erlebnisaktivierende Therapievariante zu verstehen. Anschließend werden ihre ge-stalttheoretischen Grundlagen detailliert dargestellt. Dabei handelt es sich um eine lesenswerte knappe Einführung in die Grundgedanken der Gestalttheorie allgemein.

Der Beitrag von Jan Peter Janssen "Gestalttheorie und Sportpsychologie- historische Perspektiven" befasst sich differenziert mit der Rolle der Gestalttheorie für die Entwicklung der Sportwissenschaft bzw. der Sportpsychologie. Von den Gestalttheoretikern der ersten Ge-neration gibt es praktisch keine Beiträge, allerdings haben einige wenige ihrer Schüler deren Anregungen aufgegriffen: Schüler von Köhler bzw. Koffka waren Wilhelm Benary (der uns auch durch seine Verlegertätigkeit wichtiger gestalttheoretischer Schriften in Erinnerung ist) und Hanns Georg Hartgenbusch. Ebenso zu nennen ist Otto Klemm, der aus der Leipziger Schule der Ganzheitstheorie hervorgegangen war. Deren Publikationen wurden allerdings nur sehr verhalten von den Sportwissenschaftlern aufgegriffen. In den 70er Jahren gab es sportpsychologische Forschungen von Kurt Kohl und Paul Tholey aus der Frankfurter Schule, die sich sehr eng an der gestalttheoretischen Erkenntnistheorie orientierten. Auch Wilhelm Witte ist zu erwähnen. Weitere Beiträge gehen auf die Lewinsche Theorie zurück, nämlich handlungstheoretische und psycho-ökologische Ansätze, die mit den Namen Gerhard Kaminski, Alexander Thomas und Uwe Grau verbunden sind. Trotz dieser direkten und weiterer indirekter Einflüsse sind gestalttheoretische Annahmen nicht weiter ver-folgt worden, da die Sportwissenschaft zunehmend von Themen des Leistungssports be-herrscht wurde.

Jaana Utriainen hat in ihrem Beitrag "Gestalt Theory and Art Education in the 20th Century" als Ergebnis einer umfänglichen Recherche zusammengetragen, ob und in welcher Weise sich Mitglieder der gestalttheoretischen Schule mit Fragen der Kunst befasst haben. Einige Publikationen von Christian von Ehrenfels belegen sein großes Interesse an Musik. Von den anderen Gründern der Gestaltschule stammen dagegen sehr wenige Veröffentlichungen zu diesem Themenkreis, wenngleich sie sehr an Kunst interessiert waren, Musik spielten etc. Eine Ausnahme stellt dagegen das Lebenswerk von Rudolf Arnheim dar. In sehr vielen Publikationen hat er gestalttheoretische Grundannahmen auf Probleme der Kunst in verschiedensten Bereichen angewandt und dabei sowohl Produktion wie auch Rezeption berücksichtigt. Basale Ideen wurden auch im deutschen Bauhaus und dann in der American New Bauhaus School sowohl im Curriculum für Bildkunst wie auch für Design aufgegriffen. Gestaltpädagogik und Kunstdidaktik waren sehr stark von der Gestalt-Therapie beeinflusst, hier spielten aber auch andere Theorierichtungen wie Humanistische Psychologie, Gruppendynamik u.a. mit hinein.

Die folgenden Beiträge befassen sich mit Anwendungen der Gestalttheorie bei verschiedenen Fragestellungen (Galli) und in verschiedenen Disziplinen: Literatur, Design, Sprache, Foto-grafie, Tierpsychologie.

Guiseppe Gallis Ausführungen zur "Psychologie sozialer Tugenden" zeigen auf, dass soziale Tugenden aus verschiedenen Perspektiven dynamisch beschrieben werden können. Ausgehend vom anthropologischen Modell der Gestalttheorie werden verschiedene Zugänge vorgestellt: der feldtheoretische und der hermeneutische Ansatz und derjenige scenischer Analyse. Es ist interessant zu sehen, wie jede Analysestrategie Beiträge zum Thema leistet. Anschließend wird beispielhaft auf die Tugend der Dankbarkeit und die Tugend der Hingabe eingegangen. Auf der Basis der Analysen von Briefen und wissenschaftlichen Texten wird abschließend auf soziale Tugenden im Leben von Sigmund Freud eingegangen.

In seinem Artikel "Disguise and display" weist Roy Behrens auf den Maler Abbott H. Thayers hin, der Prinzipien der Figur-Grund-Differenzierung erkannt und genutzt hat, bevor Wertheimer und andere Gestalttheoretiker diese Phänomene experimentell erforscht haben. Unter den verschiedenen Möglichkeiten der Schattierung hat er eine besondere Form ent-deckt, die als Gegenschattierung (die Unterseite bei Tieren ist hell) bezeichnet werden kann, wodurch der Körper eines Tieres weniger solide erscheint. Zwei weitere Gestaltungsformen führen zu einer Erschwerung der Figur-Grund-Differenzierung; er bezeichnet sie als ‚zusam-menfallende Unterbrechung' (coincident disruption) und ‚Hintergrundverschmelzung' (back-ground picturing). Bei letzterer erschweren zufällige (Farb)Muster die Ausgliederung einer Figur. Das ‚hidden-figure'-Prinzip gehört zu dieser Gruppe von Gestaltungsformen. Diese Formen sind eine Bestätigung der Grundgedanken von Wertheimer, sie werden aber in der künstlerischen Praxis weiter ausdifferenziert.

Der Beitrag 'Ein Dichtungsbegriff mit Gestalteigenschaften: Robert Musils Aufsatz "Li-terat und Literatur"' stammt von Sylvia Bonacchi, einer in Polen lehrenden Germanistin. Robert Musil hat aufgrund seiner Biografie besondere Beziehungen zur Gestalttheorie, weil er in Berlin zusammen mit den Gestalttheoretikern der ersten Generation - auch noch unter Stumpf - studiert und intensive Kontakte mit ihnen gepflegt hat. Später hat er sich mit Fragen der Literatur auf der Basis gestalttheoretischer Grundannahmen beschäftigt. Die Autorin arbeitet seine Erkenntnisse und Positionen zu Phänomenen und Problemen künstlerischen Schaffens heraus. Dabei hat Musil Fragen wie ‚Was ist gute Literatur?' und schließlich auch ‚Was ist Kunst?' behandelt. Besonders beim Verhältnis von Form und Inhalt sieht er enge Be-ziehungen zum Gestaltbegriff.

Der Beitrag von Jurgis Skilters zu "Semantic Prominence and Semantic Segmenting" befasst sich mit der Frage, ob und in welcher Weise gestalttheoretische Konzepte von Nutzen für die Sprachwissenschaft sein können. Diese Frage bezieht er auf das Erkennung und die Verarbeitung von Bedeutung, die im Wesentlichen auf Prozessen der semantische Hervorhebung und Segmentierung beruht. Skilters kann aufzeigen, dass die kognitive Semantik, ein neuerer Zweig der Sprachwissenschaft, erheblich von gestalttheoretischen Grundannahmen profitieren kann, speziell wenn die Figur-Grund-Dualität herangezogen wird. Sie ist bei den Teilprozessen der Bedeutungsgenerierung von erheblicher Relevanz: der Satzanalyse, der Bedeutungsaktivierung und der Wissensstrukturierung. Weiter vermag der Autor Belege für die Universalität der Figur-Grund-Differenzierung beizubringen, auch dafür, dass gestaltpsychologische Erkenntnistheorie mit derjenigen der kognitiven Semantik in Einklang ist.

Richard Zakia veranschaulicht in seinem Beitrag "Gestalt and Photography" anhand von ausgesuchtem Bildmaterial, dass die Figur-Grund-Differenzierung und die Gestaltfaktoren, wie Nähe, Ähnlichkeit, Fortsetzung und Schließung bei Design und Komposition in der Foto-grafie eine erhebliche Rolle spielen. Fotographien von Henri Cartier-Bresson, August Sander, Aaron Siskind, Pete Turner und Edward Weston werden in diesem Beitrag als Beispiele angeführt. Es handelt sich hier um die gleichen Prinzipien, deren Wirken Rudolf Arnheim bereits an wichtigen Gemälden und Skulpturen demonstriert hat und deren Bedeutung für das graphische Design Gyorgy Kepes und Roy Behrens aufgezeigt haben.

Mario Zanforlin berichtet in seinem Artikel "My Research on Animal Behaviour" über eine Untersuchungsreihe an relativ niederen Tieren, die zum Ziel hatte, basale Prozesse der Wahrnehmung, des Gedächtnisses und des Problemlösens zu untersuchen. Es handelte sich um Fliegenlarven, Raupen, Ratten, Fliegen, Schnecken und Hühnerküken. Allgemein zeigte sich, dass deren Verhalten meist flexibel an die Situation angepasst ist. Es gab auch Hinweise, dass niedere Tieren visuellen Täuschungen ebenso unterliegen wie höhere Tiere und wie Menschen. Umwegversuche mit Küken zeigten, dass diese - im Gegensatz zu früheren Beobachtungen - in der Lage zu Umwegverhalten sind, wenn die Barrieren gut sichtbare Hindernisse darstellen, und dass sie außerdem das Ziel im Gedächtnis behalten, selbst wenn sie es während des Umwegverhaltens aus dem Blick verlieren.

Der abschließende Beitrag von Hellmuth Metz-Göckel über "Dual Process-Theorien in der Social Cognition Forschung" versucht neuere Erkenntnisse der sozialen Kognitionsforschung in den Erkenntnisstand der Gestalttheorie zu integrieren. In diesem Teilbereich der Psychologie hat sich die Auffassung in den letzten Jahren erhärtet, dass menschliches Verhalten und Erleben auf zwei sehr verschiedene Verarbeitungssysteme zurückgeht. Nämlich eines das die Merkmale automatisch, unbewusst, schnell hat, während das anderen als bewusst, kontrolliert, aber auch störanfällig anzusehen ist. Beide Systeme können theoretisch und empirisch relativ gut differenziert werden, und man kann die Frage aufwerfen, wie sie mit einander agieren. Besonders der Fall, in dem beide Systeme zu unterschiedlichen Handlungsimpulsen führen ist interessant.
Es zeigt sich, dass eine systemische Betrachtungsweise erst noch diskutiert werden muss.